Mit allen meinen wir alle: Libanon im Ausnahmezustand

Seit 17. Oktober 2019 demonstriert die libanesische Bevölkerung landesweit gegen die verschlechterten Lebensbedingungen und Aussichtslosigkeit. Ein sonst durch religiöse Konflikte gespaltenes Volk erhebt sich gegen die führende Elite, die das Land seit dem Bürgerkrieg vor 29 Jahren aufgrund von Korruption und politischer Fehlentscheidungen nahezu in den Bankrott geführt hat.

von Michael Jabbour

„Mit allen meinen wir alle!!!“ – ein Slogan, den alle Demonstrierende gegen die libanesische Regierung oder, besser gesagt, gegen sämtliche Parteien vereint, die es seit Ende des Bürgerkrieges 1990 verabsäumt haben, einen funktionalen Staat zu errichten.

Infolge einer katastrophalen und korrupten Führung, an der fast alle politische Parteien Schuld haben, gehört der Libanon mit 86 Milliarden Euro nach Japan und Griechenland zu den verschuldetesten Ländern der Welt. Bei einem Land, das nur halb so groß wie Niederösterreich ist, wirkt das fast schon unfassbar. Anstatt gegen die massenhafte Korruption und fehlerhafte Politik vorzugehen, versuchte die Regierung das Defizit durch weitere Besteuerung der ohnehin schon verarmten Bevölkerung zu verringern. Wenige Wochen vor Ausbruch der Demonstrationen überhäuften sich die Ereignisse im Libanon. Eine Abwertung des libanesischen Pfunds sowie die begrenzte Möglichkeit, an die Ausweichwährung Dollar zu gelangen, sorgten für reichlich Unmut innerhalb der Bevölkerung. Kurz danach erschütterten heftige Waldbrände über Tage hinweg das Land und zerstörten mehrere Hektar Wald. Die Feuer konnten letztendlich nur mit Luftunterstützung von Zypern und Jordanien gelöscht werden, da die libanesischen Feuerlöschflugzeuge seit zehn Jahren nicht gewartet wurden. Kurz danach brachte die Nachricht über eine geplante Steuer auf die Nutzung von WhatsApp das Fass schließlich zum Überlaufen und die Libanes*innen begaben sich auf die Straßen, um ihren Unmut kundzutun. Um besser zu verstehen, wie es soweit kommen konnte und weshalb die Demonstrationen einzigartig in ihrer Art sind, muss man sich kurz die Geschichte des Landes vor Augen halten.

Libanon – ein multikonfessionelles Land mit blutiger Vergangenheit

Mit seinen 18 Religionsgruppen, die dem Christentum und dem Islam zuzuordnen sind, ist der Libanon im Nahen Osten ein sowohl einzigartiges wie auch äußerst komplexes Land. Angesichts der religiösen Vielfalt einigten sich führende Politiker nach der Unabhängigkeit von 1943 darauf, die politische Macht sowie alle Ämter nach einem religiösen Proporz aufzuteilen. Diese religiöse Aufteilung der Macht sowie der politischen Ämter hatte aber zur Folge, dass sich im Libanon nie ein funktionierender und starker Staat etablieren konnte, da die jeweiligen Religionen stets darauf bedacht waren ihre eigene Macht und Privilegien zu wahren beziehungsweise mehr Macht und Mitspracherechte zu bekommen. Somit waren Reformen immer an Kompromisse unter den verschiedenen Religionskomponenten und den jeweiligen politischen Führern gebunden. In den meisten Fällen scheiterten umfassende Reformvorhaben aufgrund des starren politischen Systems und der Unfähigkeit herrschender Eliten sich zu einigen. Hinzu kommt noch, dass der Libanon als kleiner Staat im Nahen Osten mit den Nachbarn Syrien und Israel nicht isoliert von den andauernden Konflikten blieb und nach wie vor nicht ist sowie politische Parteien immer schon stark von regionalen Verbündeten wie Syrien, Iran oder Saudi-Arabien abhängig waren.

Infolge demografischer Veränderungen zugunsten der muslimischen Bevölkerung wurde der Ruf nach einer Angleichung des politischen Proporzes immer größer, worin ein Großteil der christlichen Bevölkerung eine Bedrohung sah und um ihren politischen Einfluss fürchtete. Ein Ereignis folgte auf das andere und letztendlich kam es zu einem blutigen Bürgerkrieg, der über 15 Jahre hinweg die einstige „Schweiz des Nahen Ostens“ zerstörte. Die Bilanz war fatal: schätzungsweise 150. 000 Tote, mehrere hunderttausende Auswanderer*innen, 17.000 vermisste Personen sowie ein von Syrien und Israel über mehrere Jahre besetztes Land.

Zu all dem blieb die Bevölkerung tief gespalten und das politische System wurde nicht abgeschafft, sondern nur abgeändert. Im eigentlichen Friedensvertrag von Taef war festgehalten, dass das System vorübergehend nach einem 50/50 Proporz angepasst werden sollte und im weiteren Sinne durch ein Säkulares ersetzt werden sollte. Ferner war vorgesehen, dass sämtliche Milizen ihre Waffen abgeben und sich zu politischen Parteien umwandeln sollten. Eigentlich sollte damit der Weg für eine bessere Zukunft geebnet werden, doch leider sollte es anders kommen. Die Kriegsherren von damals wurden Politiker und sahen nach dem Krieg eine Möglichkeit ihre Macht zu behalten und sich auch reichlich am Staate zu bereichern. Die Gespenster des Krieges und das Misstrauen gegenüber anderen Religionen nützten die früheren Warlords aus, um sich als Beschützer der jeweiligen Minderheit zu profilieren und ihre Widerwahl über Jahrzehnte zu sichern.

17. Oktober 2019 – das Volk erhebt sich gegen die politische Klasse

29 Jahre nach dem Ende des Krieges erhebt sich das libanesische Volk, um sein Recht auf ein Leben in einem funktionierenden Staat einzufordern. Die Spaltung, die der Krieg verursacht hat, scheint seit den letzten Tagen nebensächlich. Landesweit gehen Libanesen*innen , Christ*innen und Muslim*innen Hand in Hand zu Tausenden auf die Straße, um für sich und ihre Kinder eine bessere Zukunft im Libanon zu erreichen. Die Forderungen mögen unterschiedlicher nicht sein: Die einen fordern den Rücktritt der Regierung, des Präsidenten und des Parlaments und die Übernahme durch eine Militärregierung, während andere eine neutrale Expertenregierung und vorgezogene Parlamentswahlen fordern. Für mich persönlich sind diese Forderungen nicht die Essenz dieser Entwicklung, sondern bedeuten vielmehr, dass alle Libanes*innen sich gemeinsam für eine Sache einsetzen und sich nicht mehr von den früheren Kriegsängsten einschüchtern lassen.

Der Rücktritt Hariris – Was folgt nun ?

Am 29.Oktober, dem 13. Tag der Demonstrationen, erreichten die Bewegungen im Libanon ihr erstes Ziel, nachdem der Premierminister Saad al Hariri seinen Rücktritt ankündigte. Seine Versuche, die Regierung mit neuen und für die Demonstrant*innen weniger provokativen Ministern zu verändern, scheiterten am Veto der Hisbollah und der dem Präsidenten nahestehenden Freien Patriotischen Bewegung. Außerdem wurde dieser Rücktritt wenige Stunden zuvor durch das gewaltvolle Eindringen fanatischer Hisbollah-Anhänger überschattet, die die friedlichen Kundgebungen im Zentrum kurzfristig unterbrachen. Eben hier liegt eine der größte Herausforderungen für die neu entstandene Protestbewegung. Denn wenn man sich gegen die gesamte politische Klasse richtet, geht man wohl oder übel auch mit deren Anhängern auf Konfrontationskurs. Bei einer bis auf die Zähne bewaffneten Hisbollah besteht hier auch die Gefahr von bewaffneten Auseinandersetzungen, sofern sie diese Demonstrationen als Bedrohung für ihr derzeitiges Machtmonopol erachten.

Seit dem Regierungsrücktritt haben die Proteste landesweit vorerst abgenommen, da man abwartet, welche Ergebnisse die Sondierungsgespräche des Präsidenten bringen werden. Eins ist jedoch klar: Sollte es die politische Klasse verabsäumen, eine vertrauenswürdige Regierung zu bilden, dann werden die Protestbewegungen wieder rasant zunehmen.

Schmerz und Hoffnung

Aufgrund meiner libanesischen Wurzeln schmerzt mich diese Lage besonders, da ich die Libanes*innen als  ein offenes, warmherziges und äußerst kreatives Volk kennengelernt habe, doch  habe ich ebenso gemerkt, dass die Situation in ihrer Heimat sie hoffnungslos gemacht hat. Für mich reicht ein kurzer Aufenthalt am Flughafen Beirut, um den Schmerz dieser Menschen zu fühlen. Jeder hat seine Heimat, Familie und Freunde aus verschiedensten Gründen verlassen müssen, sei es Krieg oder die schlechte Wirtschaftslage. Jedes Mal, wenn man sieht, wie sich eine Familie von ihren Kindern am Flughafen verabschiedet, bricht es einem das Herz: Tränen, Ungewissheit, zerstörte Hoffnungen und ein wehmütiger Aufbruch in ein neues Land und Leben, obwohl man eigentlich gerne in seiner Heimat geblieben wäre. Ich für meinen Teil hoffe, dass diese Demonstrationen dem kleinen Zedernstaat endlich die Zukunft ermöglich, die er verdient, nämlich eine Zukunft in Frieden, Sicherheit und Würde.

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