Neutralität, Sicherheit & Ukraine: Österreich dürfte eigentlich mehr tun

Policy Brief von Michael Stellwag 

Es herrscht eine riesige Kluft zwischen den „gefühlten“ und den tatsächlichen verfassungsrechtlichen Beschränkungen der Neutralität. Daher behindert sich die österreichische Politik entgegen ihrer eigenen Interessen in der europäischen Sicherheitspolitik selbst. Die russische Aggression zwingt die Republik, aus ihrer sicherheitspolitischen Lethargie zu erwachen und den neuen Realitäten ins Auge zu sehen.

Policy Recommendations:

Erstens braucht es dringend eine Entmystifizierung und sachliche Aufklärung der tatsächlichen Möglichkeiten und kaum vorhandenen Beschränkungen der Neutralität. Diese existiert nur noch als harter Kern, gilt jedoch realpolitisch in der EU nicht mehr. Die angekündigte neue österreichische Sicherheitsstrategie ist dafür eine einmalige Chance.[1]

Zweitens muss man die paradoxe Situation auflösen, dass man im Ernstfall fest an den Beistand befreundeter EU-Staaten glaubt, aber selbst nur begrenzt solidarisch ist. Gerade im Kontext der von Russland eingerissenen europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung und eines sich anbahnenden Systemkonflikts müssen die europäischen Demokratien näher zusammenrücken. Österreich muss sich zu den Verpflichtungen von Artikel 42.7 EUV bekennen und das klar seinen Partnern und der eigenen Bevölkerung kommunizieren.

Drittens muss die Ukraine diesen Krieg gewinnen. Das Österreichische Bundesheer soll bei der EU-Trainingsmission (EUMAM) einen Beitrag leisten, um die ukrainische Armee auszubilden, damit sie ihr Land verteidigen kann.

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 Es war ein politisches Theater am 30. März 2023, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi per Videoschaltung im österreichischen Parlament sprach. Die Abgeordneten der FPÖ boykottierten die Rede komplett, die SPÖ fehlte zur Hälfte. Laut Umfragen war die Mehrheit der Bevölkerung gegen diesen Auftritt[2] und in der Öffentlichkeit wurde heiß debattiert, ob denn eine solche Einladung nicht der Neutralität widerspreche. Diese Debatte findet im Kontext dessen statt, ob Österreichs Politikerinnen und Politiker durch die Russland-Sanktionen und andere politische Positionierungen nicht bereits völlig die Neutralität verletzt und verraten haben.

Die Antwort ist eindeutig: Nein, die Neutralität wurde nicht verletzt. Die Rede eines Staatschefs, dessen Land angegriffen wird und der sich im österreichischen Parlament für Österreichs humanitäre Hilfe bedankt, ist absolut mit der Neutralität vereinbar und berührt diese in keinster Weise. Überhaupt schränken die verfassungsrechtlichen Verpflichtungen der Neutralität die realpolitische Handlungsfähigkeit viel weniger ein, als oft wiedergekaut wird.

 Das Neutralitätsrecht ist so gestaltet, um an allen Maßnahmen in der EU teilzunehmen

Das Bundesverfassungsgesetz (B-VG) über die Neutralität Österreichs beschränkt sich auf wenige Zeilen und zielt vor allem darauf ab, dass Österreich keiner Militärallianz beitritt und an keinem Krieg teilnimmt sowie keine fremden Militärbasen in Österreich eröffnet werden.[3] Vor allem limitiert diese Definition die Neutralität auf eine rein militärische Dimension. Das Land ist folglich nicht politisch, moralisch oder wirtschaftlich neutral und kann seit Inkrafttreten des entsprechenden Paragraphen 1955 sehr wohl mit Konfliktparteien sprechen, einem Opfer eines Angriffs beistehen, wirtschaftliche Sanktionen verhängen und sich aktiv positionieren. Zudem muss Österreich in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen (was es nicht ist).

Die Neutralität wurde auch im Einklang mit Völkerrecht, konkret im Rahmen von Einsätzen der Vereinten Nationen (UNO), gelebt. Neutral bedeutete nie unparteiisch, unsolidarisch oder gewissenlos zu sein. Man wurde neutral, um unabhängig zu werden. Und dafür durfte man nicht gleichzeitig institutionell an der sicherheitspolitischen Westbindung mitwirken. Die Auslandseinsätze, die Österreich seit mehreren Jahren leistet, brachten und bringen dem Land Anerkennung und Lob ein – vor allem am Westbalkan.

Die Neutralität Österreichs ist nichts Statisches und Gleichbleibendes, sondern hat sich über die letzten Jahrzehnte mehrmals gewandelt und weiterentwickelt. So wurde sie sowohl durch die Präfixe „aktive“, „engagierte“, „umfassende“ und „differenzielle“ neu ausgelegt bzw. uminterpretiert. Eine solche aktive Neutralitätspolitik erfuhr unter Bundeskanzler Bruno Kreisky ihren Höhepunkt. 2016 forderte der damalige Verteidigungsminister Hans-Peter Doskozil sogar eine „interessensgeleitete Neutralität“.[4]

Im Zuge des EU-Beitritts 1995 wurde die Neutralität auf einen kleinen, harten Kern reduziert und für eine vorbehaltlose Teilnahme in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) konzipiert. Sie wurde also einmal mehr differenziert. Das B-VG zur Neutralität wurde durch den neuen Artikel 23j der Bundesverfassung verdrängt. Dieser regelt die Teilnahme Österreichs an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU, einschließlich der GSVP.[5] In der Rechtswissenschaft spricht man von „derogiert“. Das bedeutet schlicht und einfach, dass das Neutralitätsrecht innerhalb der EU nicht gilt, weil es von EU-Recht – aus freien Stücken – überlagert und ersetzt wurde. Das Problem ist nur: fast niemand in Österreich weiß das.

„Irische Klausel“ als Schlupfloch

Mit Schaffung der GSVP[6] im Zuge des Vertrags von Lissabon 2009 wurde auch zum ersten Mal eine Beistandsklausel innerhalb der EU verankert, der berühmte Artikel 42.7 EUV.[7] Diese besagt, dass im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ein EU-Mitgliedsland alle anderen EU-Mitgliedsländer alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung leisten müssen. Hier gilt es jedoch auf die „irische Klausel“ in selbigem Artikel zu verweisen, welche den besonderen verteidigungspolitischen Charakter einiger Mitgliedstaaten unberührt lässt. Das bedeutet, dass die neutralen Staaten innerhalb der EU einen gewissen Handlungsspielraum haben, welche Hilfe (humanitär, wirtschaftlich oder militärisch) sie im Konfliktfall geben. Für die Neutralität bedeutet dies ein Schlupfloch, auf das man sich gegebenenfalls berufen könnte. Das bedeutet, dass man sich bei einem Hilferuf auf die militärische Neutralität berufen (oder herausreden) könnte, aber nicht muss, und schon gar nicht soll. Denn das würde den Beistands-Gedanken natürlich bedeutend schwächen. Die EU ist aufgrund der Beistandsklausel zwar eine Militärallianz, aufgrund dieser „irischen Klausel“ gibt es jedoch Ausnahmen und Handlungsspielräume. Für Irland, das ebenso neutral ist, war dies entscheidend. Für Österreich bedeutet das, dass man grundsätzlich bei allen Maßnahmen innerhalb der GSVP mitmachen darf, sich aber notfalls durch die „irische Klausel“ auf die Neutralität berufen kann.

Paradoxa und Mythen müssen aufgeklärt werden

Allerdings stellt sich schon die Frage, ob es auch im außen- und sicherheitspolitischen Interesse Österreichs ist, sich im Ernstfall auf militärische Hilfe von anderen Staaten zu verlassen, aber selbst diese nicht zu leisten. Hinzu kommt noch, dass Österreich, anders als die oft als Beispiel angeführte Schweiz, aufgrund der chronischen Unterfinanzierung und fehlender Kapazitäten nicht in der Lage wäre, sich selbst zu verteidigen. Dieses Paradoxon ist der Kern der Kritik an die österreichische Mentalität der sicherheitspolitischen Drittbrettfahrer.[8]

Über die letzten Jahrzehnte gediehen einige Mythen rund um die Neutralität – und wurden teils sogar aktiv gefördert. Durch diese Mythen verfestigten und verbreiteten sich in der Bevölkerung „gefühlte“ Beschränkungen der Neutralität, wie im Titel angegeben. Daher kommt es bei jeder sicherheits- oder verteidigungspolitischen internationalen Kooperation oder Maßnahme zu anfänglicher Skepsis oder Abwehrreflexen in der Bevölkerung. Politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger fühlen sich dann oft gemüßigt zu betonen, dass an der Neutralität nicht gerüttelt werde. Es ist daher dringend erforderlich, diese zu gefühlten Wahrheiten gediehenen Mythen aufzuklären. Einige davon sollen hier dargestellt werden:

  • Die Neutralität ist im Staatsvertrag verankert.“ – Falsch, sie hat rechtlich nichts mit dem Staatsvertrag zu tun, der am 15. Mai 1955 unterzeichnet wurde. Die Neutralität wurde als Verfassungsgesetz am 26. Oktober 1955 verabschiedet. Natürlich gibt es eine Verbindung, da die Neutralität Voraussetzung für die Sowjetunion war, dem Staatsvertrag zuzustimmen. Vom rechtlichen Status ist die Neutralität aber nicht an den Staatsvertrag gebunden und somit unabhängig davon als klassisches Verfassungsgesetz weiterentwickelbar oder absetzbar.
  • Österreich dürfte das ursprüngliche Neutralitätskonzept ja gar nicht verändern oder ganz abschaffen, weil dieses mit den ehemaligen Besatzungsmächten in völkerrechtlich verbindlichen Verträgen verankert ist.“ – Falsch, die Neutralität ist als Bundesverfassungsgesetz in Österreich verankert und wurde in Form von bilateralen Notifikationen allen anderen Staaten gegenüber kommuniziert. Das bedeutet, Österreich hat die vier Besatzungsmächte und alle anderen Staaten sozusagen nur höflich informiert: Man gedenke jetzt neutral zu sein und dies möge respektiert werden. Daraus leitet sich keine völkerrechtliche Verpflichtung ab – weder seine Politik zu ändern, noch um Erlaubnis fragen zu müssen.
  • Wir sind doch Brückenbauer, und wenn wir nicht mehr neutral sind, geht das nicht mehr.“ – Stimmt tendenziell nicht. Klar ist, durch die Einbindung in die GSVP hat Österreich weniger Spielraum als vor 1995. Zugleich änderte sich auch der Kontext des Kalten Krieges: Österreich liegt nicht mehr zwischen zwei Blöcken und hat geopolitisch allein zu wenig Gewicht für große Vermittlerrollen. Mit Blick auf das NATO-Land Norwegen[9] und das baldige NATO-Land Schweden zeigt sich, dass auch nicht-neutrale Staaten erfolgreiche Brückenbauer sein können. Der gegenwärtige Kontext ist außerdem sicherlich anders als während des Kalten Kriegs. Eine Vermittlerfunktion hängt vor allem von der Glaubwürdigkeit und den dafür notwendigen Ressourcen in der Außenpolitik ab, die Neutralität hat im 21. Jahrhundert dafür eine geringere Bedeutung. Diese Ressourcen für entsprechende diplomatische Funktionen unterliefen auch dem Sparstift.
  • Warum sollten wir unsere Sicherheitspolitik ändern? Wir werden doch eh nicht bedroht.“ – Auch diese Gefühlslage als „Insel der Seligen“, die nichts zu befürchten hat, weil sie von NATO-Staaten umgeben ist, ist nicht mehr zeitgemäß. Alle aktuellen nationalen Sicherheitsberichte weisen auf die geänderte Sicherheitslage hin, insbesondere durch hybride und Cyberattacken. Die österreichische Offiziersgesellschaft spricht bezüglich des russischen Angriffs auf die Ukraine sogar von einer „unmittelbaren Bedrohung unserer Gesellschaft, unserer Sicherheit und unserer Lebensgrundlagen.“[10]

Die Kluft zwischen „gefühlter“, identitätsbezogener neutralitätspolitischer Standortbestimmung und tatsächlichen Fakten und aktuellen Realitäten ist klar ersichtlich und riesig. Die politische Klasse hat es verabsäumt, über die tatsächliche Auslegung und die kaum vorhandenen Einschränkungen der Neutralität seit dem Vertrag von Lissabon zu informieren. Das verhindert eine sachliche und realitätsbezogene Debatte über die Sicherheit in Österreich. Man argumentiert nach wie vor mit Mythen. Das rächt sich jetzt, denn man sieht den neuen Realitäten des Ukraine-Krieges und seinem geopolitischen Kontext nicht ins Auge. Das muss sich dringend ändern.

Der russische Angriff auf die Ukraine und die österreichische Neutralität

Aus verfassungsrechtlicher Perspektive steht es Österreich völlig frei, sich beim Ukraine-Krieg nicht neutral zu verhalten und im Rahmen von EU-Maßnahmen die Ukraine zu unterstützen. Daher sind die Russland-Sanktionen und andere Maßnahmen völlig legitim – und aufgrund der Aggression notwendig. Aus einem reinen neutralitätsrechtlichen Standpunkt wäre es Österreich ebenfalls erlaubt, Es wäre Österreich neutralitätsrechtlich ebenfalls erlaubt, sich bei der militärischen Ukraine-Hilfe aktiv zu beteiligen, was bedeutet, Waffen zu liefern oder zu finanzieren. Die Zustimmung für ein solches Vorhaben wäre in der Bevölkerung – vor allem mit Blick auf das Mythenbekenntnis – natürlich nicht gegeben.

Bei der bilateralen finanziellen Hilfe für die Ukraine ist Österreich sehr engagiert. Bei der humanitären Hilfe belegt Österreich gemessen am BIP den ersten Rang.[11] Das erklärt sich dadurch, dass jene Mittel, die nicht militärisch genutzt werden, zusätzlich in die humanitäre Hilfe fließen. Die Militärhilfe findet über die EU im Rahmen der GSVP statt und wird über das neue Instrument der European Peace Facility abgewickelt. Österreich stimmte bei diesen Paketen mit einer konstruktiven Enthaltung. Man hielt sich raus und beteiligte sich nicht, ermöglichte aber die militärische Unterstützung der anderen EU-Mitgliedstaaten und begründet dies mit der Neutralität.[12] Mit der „irischen Klausel“ hat dies aber nichts zu tun, da diese nur den Bündnisfall innerhalb der EU betrifft und die Ukraine kein Mitglied ist. Die konstruktive Enthaltung war jedoch keine neutralitätsrechtliche Verpflichtung, da diese wie bereits erwähnt innerhalb der EU nicht mehr gilt, sondern eine bewusste politische Entscheidung. Neutralitätsrechtlich dürfte Österreich Militärhilfe leisten. Dies würde aus den beschriebenen Empfindungen aber für massive Proteste sorgen. Eine politische Debatte darüber findet jedoch auch nicht statt.

Im Herbst 2022 haben die Mitgliedstaaten der EU eine Trainingsmission zur Unterstützung der Ukraine beschlossen (EUMAM Ukraine). Das Mandat zielt darauf ab, die ukrainischen Streitkräfte in den Bereichen medizinische Hilfe, ABC-Schutz, Minenräumung, Logistik und Kommunikation auszubilden, damit diese dann die territoriale Integrität ihres Heimatlandes besser verteidigen können.[13] Österreich und Irland haben sich eingangs nicht beteiligt, Irland ändert jetzt jedoch seine Position. Österreich sollte seine Position ebenso überdenken und bei dieser reinen Ausbildungsmission EUMAM ebenso einen Beitrag leisten. Das Österreichische Bundesheer sollte seine spezialisierten Fähigkeiten, über die es in einzelnen Bereichen trotz Unterfinanzierung verfügt, unbedingt einbringen Ein Mitwirken ist anzuraten, da es zum Nachteil für Österreich wäre, sich – bis auf Malta – als einziges Mitgliedsland nicht zu beteiligen. Wenn dieser Krieg zu Ende ist, werden die europäischen Partner Österreich darauf hinweisen, welchen Beitrag es geleistet hat – oder eben nicht. Neutralitätsrechtlich, auch das sei erwähnt, ist eine volle Beteiligung an der EUMAM Ukraine möglich.

Zusätzlich sollte man sich in Österreich mit diesem Konflikt intensiver auseinandersetzen, weil mehr auf dem Spiel steht als ein paar ukrainische Oblaste, wie oft lapidar behauptet wird. Es ist dringend notwendig, den Ukraine-Krieg als das zu sehen, was er ist: Bestandteil eines internationalen Systemkonflikts, in dem es darum geht, welches politische System, welche politische Ordnung und Sicherheitsarchitektur überlebensfähiger und attraktiver sind -autoritäre, diktatorische Systeme oder die liberal-demokratische Grundordnung.

 Neutral sein, wenn das Fundament, auf dem das Land steht, angegriffen wird?

Als der russische Überfall am 24. Februar 2022 mit Bombardierungen und Bodentruppen begann, wurde nicht nur ein souveräner Staat angegriffen. Russland bedroht damit auch ganz Europa. Russland hat mit dem Einmarsch, wie auch schon bei der Annexion der Krim 2014, das Budapester Memorandum von 1994 gebrochen, in dem Russland die territoriale Integrität der Ukraine zugesichert hatte. Russland hat mit dem Einmarsch auch den russisch-ukrainischen Grenzvertrag von 2003 gebrochen, der sogar von Putin persönlich unterschrieben wurde.[14] Völkerrechtliche Verträge wie diese sind das Fundament der Europäischen Friedensordnung, die allen voran territoriale Integrität und friedliche Streitbeilegung ausmacht. Es ist daher nicht vermessen, wenn die Ukraine behauptet, nicht nur ihr eigenes Überleben, sondern damit auch die europäische Sicherheitsarchitektur zu verteidigen.

Der Rechtsstaat und politische Prozesse in der Ukraine sind sicherlich mangelhaft und massiv ausbaufähig, aber die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wünscht sich eine Entwicklung zu einer Demokratie nach europäischem Vorbild. Und das versucht der Kreml durch den Angriff auf die Ukraine nun zu vernichten. Denn ein demokratischer Aufbruch, der ins eigene Land überschwappen könnte, wäre das Alptraumszenario für den Kreml.

Daher führt Russland Krieg gegen die Ukraine, will damit aber das ganze demokratische Europa destabilisieren. Schärfen wir unser Kurzzeitgedächtnis: Russland sorgt nicht nur aktiv in Moldau und Georgien für Destabilisierung, es hat auch bei den Parlamentswahlen in Schweden und Lettland sowie bei der EU-Parlamentswahl 2019 durch Desinformationskampagnen interveniert, Cyberattacken in Estland durchgeführt und bewusst eine Flüchtlingskrise an der polnisch-belarussischen Grenze 2021 herbeigeführt. Die Vulkan-files haben den aktiven Cyber-Krieg Russlands gegen den Westen aufgedeckt.[15] Man kann davon ausgehen, dass bei der Nationalrats- und EU-Parlamentswahl 2024 ebenso von russischen Trollfabriken versucht wird, Zwietracht in Österreich zu säen und die Bevölkerung zu spalten. Daher gilt der russische Angriff nicht nur seinem Nachbarland, sondern es ist in letzter Konsequenz auch ein Konflikt zwischen Diktatur und Demokratie.

Österreich steht und gedeiht auf dem Fundament der demokratischen Grundordnung und der europäischen Sicherheitsarchitektur. Gerade für ein kleines, im Selbstverständnis neutrales und militärisch schwaches Land wie Österreich ist eine regelbasierte Friedensordnung überlebensnotwendig. Daher sollte es im ureigensten Selbstinteresse des Landes sein, sich hier nicht zurückzunehmen und hier nicht neutral zu sein, da es um die Wahrung der eigenen Lebensweise geht. Im Zuge der von Bundeskanzler Karl Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler Anfang April 2023 angekündigten Ausarbeitung einer neuen Sicherheitsstrategie muss man daher endlich für Österreich die Fragen beantworten: Wer sind wir eigentlich? Wie schützen wir uns? Und: In welcher Welt wollen wir leben?

[1] ORF.at (2023): Nehammer und Kogler kündigen neue Sicherheitsstrategie an. Veröffentlicht am 04.04.2023. Online: https://orf.at/stories/3311496/

[2] ATV-Frage der Woche, gemäß Umfrage von Peter Hajek: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20230331_OTS0003/atv-frage-der-woche-bevoelkerung-ueber-selenskyj-rede-nicht-erfreut

[3] Zur Rechtsquelle siehe: https://www.ris.bka.gv.at/geltendefassung/bundesnormen/10000267/neutralit%C3%83%C2%A4tsgesetz,%20fassung%20vom%2019.05.2021.pdf

[4] Salzburg24.at (2016): Doskozil will „interessensgeleitete Neutralitätspolitik“. Veröffentlicht am 07.09.2016. Online: https://www.salzburg24.at/news/welt/doskozil-will-interessensgeleitete-neutralitaetspolitik-53801686

[5] Eine treffende Analyse über die rechtlichen Konturen der Neutralität im Kontext der EU liefert Franz Cede. Cede, Franz (2022): Sicherheitspolitische Standortbestimmung Österreichs 2022. In: AIES Fokus, 30.05.2022. Online: https://www.aies.at/publikationen/2022/aies-kommentar-02.php

[6] Die GSVP (Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik) ist nicht zu verwechseln mit ihrem Vorgänger, der fast ident lautenden ESVP (Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik), die jedoch mit weniger Instrumenten und Koordinierung ausgestattet war.

[7] Zur Rechtsquelle siehe: https://www.ris.bka.gv.at/NormDokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008048&Artikel=42&Paragraf=&Anlage=&Uebergangsrecht

[8] Gady, Franz-Stefan (2020): Österreichs strategische Kultur und die militärische Landesverteidigung. In: Addendum, 29.06.2020. Online: https://www.addendum.org/debatte-bundesheer/strategische-kultur-beitrag-gady/.

Sowie Gressel, Gustav (2021): Free-rider for life: Austria’s inability to fulfil its defence commitments. In: Cramer, Clara-Sophie; Franke, Ulrike (Hg.): Ambiguous Alliance. Neutrality, Opt-Outs, and European Defence. European Council on Foreign Relations Essay Collection. S.7-14. Online: https://ecfr.eu/publication/ambiguous-alliance-neutrality-opt-outs-and-european-defence/

[9] Siehe zum Beispiel die Oslo Accords im israelisch-palästinischen Friedensprozess der 1990er Jahre

[10] Österreichische Offiziersgesellschaft (2023): Position 2023. Wehr- und Sicherheitspolitisches Bulletin Nr. 4/4/2023. Veröffentlicht am 03.04.2023. Online: https://oeog.at/download/oeog-position-2023/?wpdmdl=3869&refresh=642ad42c8406b1680528428

[11] Trebesch, Christoph et al. (2023): Kiel Working Paper „The Ukraine Support Tracker“. In: Kiel Institut für Weltwirtschaft. Aufgerufen am 07.04.2023. Online: https://www.ifw-kiel.de/de/themendossiers/krieg-gegen-die-ukraine/ukraine-support-tracker/

[12] Kurier (2022): EU verdoppelt Militärhilfe für Ukraine auf eine Milliarde. Veröffentlicht am 11.03.2022. Online: https://kurier.at/politik/ausland/ukraine-borrell-eu-will-militaerhilfe-verdoppeln/401934028

[13] Rat der Europäischen Union (2022): Ukraine: EU startet militärische Unterstützungsmission. Veröffentlicht am 15.11.2022. Online: https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2022/11/15/ukraine-eu-launches-military-assistance-mission/

[14] Es gilt darauf hinzuweisen, dass einige Verträge bereits 2014 gebrochen wurden.

[15] Der Spiegel (2023). Veröffentlichungen ab 01.04.2023. Online: https://www.spiegel.de/thema/vulkanfiles/

Über den Autor:

Michael Stellwag ist Vorstandsmitglied bei Ponto. Michael schloss die Bachelorstudien Kultur- und Sozialanthropologie und Politikwissenschaft an der Uni Wien ab. Dort und mit einem Auslandsaufenthalt an der University of Tallinn absolvierte er seinen Master in Politikwissenschaft – mit einem Fokus auf Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und das politische Mehrebenensystem der EU. Nach einem Aufenthalt beim Verbindungsbüro des Landes Niederösterreich in Brüssel und beim Austria Institut für Europa und Sicherheitspolitik in Wien arbeitet er heute als Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einer Stiftung in Wien.

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