Osteuropastudien als wissenschaftliche Disziplin: von den Feindstudien zur Regionalexpertise

Was wäre, wenn Europa nicht in West- und Osteuropa, sondern in Nord- und Südeuropa oder in Zentral- und peripheres Europa eingeteilt würde? Oder wenn wir Europa nach Kriterien wie Sprachgruppen, Reichtum, Infrastruktur, politische Ausrichtung der Regierung, Klima, Landwirtschaft oder Arbeitsmarkt aufteilen würden? Hier bei Ponto haben wir gerade einen Osteuropa-Schwerpunkt ins Leben gerufen. Aber warum gerade Osteuropa? Was bedeutet Osteuropa überhaupt und welche Relevanz hat diese Region für uns? (einige Antworten auf diese Fragen könnt ihr hier bei Ninjas Blogbeitrag nachlesen) Und wie wird man eigentlich zum Osteuropa-Experten? Was ist das wissenschaftliche Fundament, bei dem wir uns Inputs für unsere Diskussionen holen können?

Die Osteuropastudien sind eine wissenschaftliche Disziplin, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem Raum Osteuropa auseinandersetzt. Beteiligt sind unter anderem die Politikwissenschaften, Geschichte, Soziologie, Kulturwissenschaften, Sprachwissenschaften, Geographie, Kultur- und Sozialanthropologie und Literaturwissenschaften. Neben den Osteuropastudien werden an der Universität Wien beispielsweise noch Ostasienwissenschaften wie Japanologie, Sinologie und Koreanologie, Südostasienstudien, Lateinamerikastudien und Europäische Studien angeboten, an ausländischen Universitäten auch North American Studies, African Studies, Kaukasusstudien, Zentralasienwissenschaften etc. Wie wird also entschieden, welche Region es „wert“ ist, studiert zu werden?

Osteuropastudien – Seit wann?

Die Entstehung der Osteuropastudien ist stark in den historischen und politischen Kontext eingebettet. Bereits im 15. Jahrhundert legte der Österreicher Baron Sigmund Herberstein mit seiner Reisebeschreibung Moscoviaden Grundstein für die Russlandkunde. Herberstein war als Diplomat tätig und reiste als österreichischer Gesandter an den russischen Hof. Schon hier zeigt sich, dass die Beschäftigung mit dem „Anderen“ von Herrschaftsbeziehungen bzw. Machtbeziehungen abhängt. Eine systematische Osteuropawissenschaft entwickelte sich jedoch erst später. Während die deutschen Osteuropastudien mit Zentrum Berlin bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu blühen begannen (1913 Gründung der Gesellschaft für Osteuropakunde als „Deutsche Gesellschaft zum Studium Rußlands“, 1925 Gründung der Zeitschrift Osteuropa), erfuhr die Disziplin allgemein (in der westlichen Welt) vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg große Resonanz. In Wien wurde allerdings bereits 1907 das „Seminar für osteuropäische Geschichte“ auf Initiative von Fürst Franz de Paula von und zu Liechtenstein gegründet. Während des Kalten Krieges waren die Osteuropastudien als privilegiertes Fach auch an der politischen Überwachung des Ostens beteiligt. Amerikanische Stiftungen sowie die amerikanische Regierung investierten viel Geld in die Erforschung fremder Weltregionen, u.a. Osteuropas bzw. der Sowjetunion (Sowjetologie als „Feindstudien“). Auch wurden Area Studies (Naher Osten, Lateinamerika, Afrika, etc.) betrieben, da beide Supermächte in diesen Regionen Unterstützter bzw. Verbündete suchten.

Ab 1989 erfuhr die Osteuropaforschung weniger Beachtung, waren doch viele der Meinung, der Zusammenbruch des kommunistischen Systems löse die Widersprüche zwischen West und Ost auf. Spätestens 2014 erkannte man, dass der Region Osteuropa möglicherweise zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Man war auf schnelle Erklärungsversuche für die Ukraine-Krise angewiesen, es waren jedoch wenige Russland- und noch weniger Ukraine-ExpertInnen greifbar. Schon zuvor rechtfertigte die Diskrepanz zwischen Erwartungen an die neuen EU-Beitrittsländer 2004 und deren tatsächlicher Entwicklung die wissenschaftliche Hinwendung zur Region Osteuropa.

Dementsprechend werden an einigen Universitäten Osteuropastudien als Teil der Europastudien angeboten (z.B. Universität Bremen mit „kulturhistorische Europastudien mit den Schwerpunkten Osteuropa/Russland und Mitteleuropa/Polen“). Phänomene wie Globalisierung, Migration, Finanzkrise, Veränderungen im politischen System seit den 70ern auch in Südeuropa, europäische Integration und die EU lassen diese Einordung durchaus plausibel erscheinen.

Osteuropastudien – Wozu?

Das alles führt uns zu der Frage: Sind die Osteuropastudien heutzutage noch relevant? Braucht man in Zeiten der Globalisierung wirklich noch Osteuropastudien? – Ich würde darauf, nicht zuletzt aufgrund meines persönlichen professionellen Werdegangs, mit „ja“ antworten. So können die Auswirkungen der Globalisierung beispielsweise gut auf regionaler Ebene erforscht werden; spezifische Reaktionen auf die Globalisierung (z.B. Abschottung) werden sichtbar. Statt des Nationalstaats rückt nunmehr die (Krisen-)Region in den Vordergrund. Dem steht das Vorurteil entgegen, dass die genaue Kenntnis einer Region eben keine besondere wissenschaftliche Qualifikation sei, da theoretische Fundierung und methodisches Vorgehen nicht ausreichend entwickelt seien. Kritik kommt auch bezüglich der mangelnden Anschlussfähigkeit an Theoriedebatten; die Osteuropastudien werden als wenig vielversprechendes „Nischenstudium“ bezeichnet, die tief im Eurozentrismus bzw. westlichen Imperialismus (Stichwort: Orientalism– Edward Said) verankert seien.

Dabei sollten jedoch auch die positiven Aspekte der „Osteuropastudien“ hervorgehoben werden: Um ExpertIn für eine gewisse Region zu werden, braucht es zumindest gute Kenntnisse möglichst vieler Sprachen der Region, ein Verständnis für spezifische Geschichte und Kultur. Außerdem ist es auch pragmatisch sinnvoll, das Forschungsinteresse auf gewisse Länder bzw. eine gewisse Region zu beschränken. Kennzeichnend für die Area Studies ist vor allem ihre Interdisziplinarität, die es ermöglicht, Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Regionalstudien können sinnvoll sein, um universellere, transnationale Theorien zu überprüfen bzw. anzuwenden; sie ermöglichen überregionale Vergleiche und bieten Kontextwissen für theoretische Fragestellungen.

Es ergeben sich aber auch folgende Probleme: Zum einen sind Osteuropastudien viel mehr als „nur“ Transformationsforschung, wie vor allem in der Politikwissenschaft oft angenommen wird. Osteuropa wird immer noch häufig mit Rückständigkeit, Andersartigkeit, Demokratiedefiziten und (schwierigen/gescheiterten) Transformationsprozessen in Verbindung gebracht – obwohl vieles (z.B. Defizite in der Medienfreiheit) auch in „etablierten“ Demokratien zu finden ist. Diese Zuschreibungen werden wiederum in Osteuropa oft selbst nicht gut aufgenommen, die Kluft zwischen Ost und West verstärkt sich so. Zum anderen werden Osteuropastudien oft als russlandzentriert wahrgenommen, in Deutschland erfahren bestenfalls noch Polen und Tschechien einige Beachtung, in Österreich liegt der Schwerpunkt (neben Russland) eher in Südosteuropa (siehe MA-Studiengang an der Uni Graz zu Southeastern European Studies). Osteuropa ist jedoch mehr als „nur“ Russland!

Osteuropa – Was hat Ponto damit zu tun?

Um nochmals auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Sprache macht auch Politik – wenn wir von Osteuropa als Einheit sprechen, bestärkt das gewisse Vorurteile. Gewissermaßen konstruieren wir Osteuropa jedes Mal, wenn wir von dieser Region sprechen. Die Einteilung Europas könnte nämlich theoretisch auch ganz anders erfolgen. Ich finde es wichtig, sich der Ursprünge einer wissenschaftlichen Disziplin bewusst zu sein; und zu verstehen, dass Wissenschaft niemals losgelöst von politischen Rahmenbedingungen existiert. Ziel von Ponto ist es auch, eine Brückenfunktion zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft einzunehmen – wir wollen die Wissenschaft aus ihrem Elfenbeinturm holen. Ponto widmet sich aus politischen Gründen der Region Osteuropa: Wir wollen die Region besser verstehen, Brücken zwischen Ost und West bauen; wir kritisieren, dass Osteuropa oft auf seine Rückständigkeit oder Mängel im demokratischen System reduziert wird. Genau deshalb schauen wir uns die Region genauer an: Wir wollen uns mit Osteuropa jenseits gängiger Vorurteile befassen. Denn auch die Beschäftigung mit einer vermeintlich „fremden“ Region kann Wissen zur Geschichte und Politik Österreichs hervorbringen. Auf dieser Basis können wir bei Ponto die österreichische Außenpolitik hinsichtlich Osteuropas aktiv mitgestalten!

Autorin

Hanna hat in Wien und Moskau Interdisziplinäre Osteuropastudien, Slawistik und Romanistik studiert. Sie ist bei Ponto Mit-Initiatorin des Programmbereichs «Osteuropa» und interessiert sich außerdem für Sicherheitspolitik, Internationale Beziehungen und Konfliktforschung. Hanna freut sich darauf, euch vor allem mit spannenden Blog-Beiträgen zu beglücken.

Fotocredit: Pixabay

Weiterführende Literatur

Zeitschrift Osteuropa (2013): Zeit im Spiegel. Das Jahrhundert der Osteuropaforschung. Jahrgang 63, Heft 2-3, Februar-März 2013.

Croitoru, Josef (2013): Sieg der Europaforschung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.95, Seite N4, online abrufbar unter https://www.uni-bielefeld.de/(de)/ZiF/FG/2011Cognition/130424_FAZ_MLenzen.pdf(24.09.2018).

Schloegel, Karl (2005): Von der Vergeblichkeit eines Professorenlebens
Otto Hoetzsch und die deutsche Rußlandkunde. In: Zeitschrift Osteuropa, Vol.12, 2005, online abrufbar unter https://www.zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2005/12/von-der-vergeblichkeit-eines-professorenlebens/(24.09.2018).

Wendland, Anna Veronika (2014): Hilflos im Dunkeln. „Experten“ in der Ukraine-Krise: eine Polemik. In: Zeitschrift Osteuropa 9-10, 2014, online abrufbar unter https://www.zeitschrift-osteuropa.de/site/assets/files/3446/oe140902.pdf(24.09.2018).

Universität Wien, Institut für Politikwissenschaften: East European Studies. Research goals, online abrufbar unter: https://politikwissenschaft.univie.ac.at/en/research/main-areas-of-research/east-european-studies/(24.09.2018).

Kennedy, Michael D. (2001): Globalizing Knowledge Through Area Studies. In: The Journal of the International Institute, Vol.9, Issue 1, Herbst 2001, https://quod.lib.umich.edu/j/jii/4750978.0009.107/–globalizing-knowledge-through-area-studies?rgn=main;view=fulltext(24.09.2018).

Hoffmann, Bert/Mehler, Andreas: Area Studies. Social research. In: Encyclopaedia Britannica, online abrufbar unter: https://www.britannica.com/topic/area-studies(24.09.2018).

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